Gert PolliIn einer brutalen Bluttat tötete der 54-jährige Mohamed H. am 30.6.2017 die Pensionisten Hildegard und Siegfried, setzte das Haus des Ehepaares in Brand und stellte sich der Polizei. Als Motiv gab der Tunesier an, dass er sich wegen der Politik der FPÖ als Muslim diskriminiert fühle und ein Exempel statuieren wolle. Seine Opfer waren Stammgäste im Bio-Laden seiner Lebensgefährtin. Bei einer Hauslieferung soll ihm ein Bild aufgefallen sein, das den Sohn des Ehepaares, einen Landesbeamten, gemeinsam mit dem FPÖ-Politiker Manfred Haimbuchner zeigt. Später verkündete Innenminister Wolfgang Sobotka, Mohamed H. habe auch einen IS-Hintergrund.

Herr Dr. Polli, dieser Fall ist so spektakulär, dass man sich über das kurzlebige öffentliche Interesse nur wundern kann. Gibt es in Österreich ein gesellschaftliches Bewusstsein für die terroristische Bedrohung?

Natürlich gibt es das. Gleichzeitig führen solche einschneidenden Ereignisse aber vor Augen, dass öffentliches Interesse und Bewusstsein eine kurze Lebensdauer haben. Die Aufmerksamkeit ist kurzfristig hoch und wird sehr rasch von der nächsten Schlagzeile überdeckt. Anders liegt der Fall, wenn man ihn aus der Perspektive der Sicherheitsbehörden betrachtet. Hier müssten eigentlich die Alarmglocken läuten.

Der Täter scheint aufgrund persönlicher Misserfolge einen Hass auf die FPÖ entwickelt zu haben, noch bevor er sich dem IS zuwandte. Kann man hier von einer islamistisch motivierten Tat sprechen?

Zwei Faktoren spielen in diesem Fall eine Rolle: Die Integration des seit 1989 in Österreich lebenden Tunesiers ist offensichtlich gescheitert und er gibt die Schuld dafür einer politischen Partei. Gleichzeitig ist es zu einer Hinwendung zum IS gekommen. Der Fall ist einmalig in Österreich: Zum einen handelt es sich um eine Art Blitzradikalisierung mit IS-Hintergrund, zum anderen spielt das politische Feindbild FPÖ eine Rolle.

Mohamed H. ist polizeibekannt gewesen, möglicherweise schon in Libyen wegen islamistischer Umtriebe eingesessen. Warum gibt es bei solchen Verdachtslagen keine Überwachung? Die Internet-Aktivitäten des Täters waren eindeutig, auf Facebook hat er zuletzt einen Treueschwur gegenüber dem IS gepostet.

So, wie Sie die Frage formulieren, vermuten Sie, dass die Sicherheitsbehörden nicht sorgfältig genug vorgegangen wären. Es ist schon richtig, dass Mohamed H. polizeibekannt war. Mehr noch: Der Tunesier wurde bereits vor 2 Jahren als unbedenklich eingestuft. Die Sicherheitsbehörden schauen sich derzeit sehr genau an, unter welchen Rahmenbedingungen diese Beurteilung damals erfolgte, wohl um künftig solchen tragischen Entwicklungen vorzubeugen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass wir es mit mehreren Hundert sogenannten Gefährdern zu tun haben. Im Verfassungsschutzbericht des BVT, der am 14. Juli 2017 der Öffentlichkeit präsentiert wurde, spricht der Direktor des BVT, Peter Gridling, von nahezu 300 Foreign Fighters, die bekannt sind. Dabei handelt es sich um Zahlen aus dem Jahre 2016. Heute kann man davon ausgehen, dass die Anzahl dieser Personen um einiges höher anzusetzen ist. Eine lückenlose Überwachung oder gar eine präventive Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist nicht so einfach rechtlich durchzusetzen. Hier sind neue Ansätze im Sicherheitspolizeigesetz und im Strafrecht erforderlich. Der Nachweis für einen strafbaren Tatbestand, wie die „Mitgliedschaft in einer Terroristischen Organisation“, ist schwierig und zeitaufwändig. Trotzdem nehmen die Verurteilungen in den letzten Jahren deutlich zu.

Gibt es eine Strategie, um dem popkulturellen Phänomen im Internet etwas entgegen zu setzten?

Natürlich gibt es hier Strategien, um den Mythos IS vor allem bei jungen Menschen ins richtige Licht zu rücken. Derzeit ist es auch so, dass die Sicherheitsbehörden das Internet intensiv als Quelle der Information nutzen, sei es, um den Schriftverkehr von Terrorverdächtigen zu beobachten, oder um Verbindungen von Straftätern zu IS nachweisen zu können, wie im vorliegenden Fall in Linz. Es gibt europaweit eine enge Kooperation der Sicherheitsbehörden, der IS-Propaganda und der Wirkung auf dafür anfällige Personengruppen etwas entgegenzusetzen. Ich beurteile die Erfolge solcher Strategien jedoch als bescheiden. Wenn Personen vom fundamentalistisch-islamischen Gedankengut radikalisiert wurden, helfen solche Strategien nur im Einzelfall. Man muss hier viel früher ansetzen, nämlich bevor die Radikalisierung stattfindet.

Laut Aussagen der Polizei werden sämtliche Kontakte, die Mohamed H. in den Sozialen Netzwerken unterhalten hat, überprüft. Wie geht das?

Die Überwachung der Kommunikation im Nachhinein in den Sozialen Medien ist schwierig, bedarf jedenfalls der Genehmigung durch einen Richter. Technisch ergibt sich das Problem, dass durch Verschlüsselungen von Messenger-Programmen die europäischen Sicherheitsbehörden meist das Nachsehen haben. Das ist auch der Grund für die künftige Einführung des „Bundestrojaners“, festgeschrieben im Sicherheitspaket. Im vorliegenden Fall dürften die Behörden wohl mit der Kooperation des Täters rechnen können, was das Thema Verschlüsselung unproblematisch erscheinen lässt. Es geht den Sicherheitsbehörden darum, Beweise zu sichern und Kontakte zum IS oder andern radikalen Kreisen zu erkennen und für die Hauptverhandlung nachzuweisen. Daraus ergeben sich unter Umständen neue Anhaltspunkte für Gefährder, die bisher nicht am Radar der Sicherheitsbehörden aufschienen.

Werden vom BVT auch Personen durchleuchtet, gegen die es keinen Verdacht einer strafbaren Handlung gibt?

Nein, das passiert nur bei hinreichender Verdachtslage und diese hat dokumentiert zu werden. Die Ermittlungen werden durch richterliche Anordnung legitimiert oder durch den Rechtsschutzbeauftragten überwacht. Ermittelte Informationen, die mit dem Fall inhaltlich nichts zu tun haben, werden nach einer bestimmten Zeit gelöscht.

Mohamed H. trug die letzten beiden Jahre keinen Vollbart mehr und kleidete sich westlich, weshalb man eine Deradikalisierung zu erkennen glaubte. Ist das wirklich der Standard der österreichischen Behörden, anhand solcher Äußerlichkeiten bestimmen zu wollen, ob jemand radikalisiert ist oder nicht?

Ich fürchte ja. Aber ich habe hier auch Verständnis für die Sicherheitsbehörden. Der Grund für die Schwächen der Behörden ist nicht einfach zu beseitigen. Nahezu alle terroristischen Attentate der letzten Jahre in Europa wurden von Personen ausgeführt, die den Behörden bekannt waren. Das spricht vorerst einmal für deren Arbeit. Das Manko allerdings besteht darin, dass man nicht erkannt hat, dass sich die Gefährder radikalisiert haben. Manchmal dürfte auch die mangelnde Kooperation zwischen den Behörden für die Fehleinschätzung des Gefährdungspotentials mit verantwortlich sein. In Deutschland hat man deshalb einen Gefährderkatalog entwickelt, um solche Beurteilungen rascher und effizienter zu treffen. Was Österreich begrifft, gehen wir hier – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in Linz – ähnliche Wege.

Der Landespolizeidirektor von Oberösterreich hat mitgeteilt, dass im Zuge des Erscheinungswechsels bei Mohamed H. vor zwei Jahren „umfassend recherchiert“ worden sei. Was heißt das?

Der Fall fällt in die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes. Dieser ist zwar mit dem BVT für gesamt Österreich zentral organisiert, die Außenstellen des BVT in den Bundesländern fallen jedoch in die Zuständigkeit der neun Landespolizeidirektionen. Es war immer schon ein Manko, dass sich die Länder einen Teil des Verfassungsschutzes einverleibt hatten, ohne auf die dafür erforderliche Kompetenz verweisen zu können. Dadurch wird der Informationsfluss deutlich geschwächt und die Expertise auch noch für jedes Bundesland zusätzlich filetiert. Der Fall in Linz ist geradezu ein Paradebeispiel für diesen fachlichen Unsinn. Diese Entwicklung wurde durch das jüngst verabschiedete Staatschutzgesetz auch noch zementiert. Die anfängliche öffentliche Fehlbeurteilung des oberösterreichischen Landespolizeidirektors, Andreas Pilsl, unterstreicht dieses strukturelle Defizit in der Organisation der Staatsschutzbehörden.

Wie wird eigentlich definiert, ob jemand radikalisiert ist? Gibt es dazu eine sozialarbeiterische Analyse des Lebensumfelds der beobachteten Personen?

Sie sprechen hier ein Defizit der derzeitigen Prävention im Bereich der Beurteilung der individuellen Radikalisierung an. In Deutschland entsteht zurzeit eine neue Abteilung im Bundeskriminalamt, die sich mit der Risikobewertung von Gefährdern befassen wird. Eine Art Radar also. Unsere Behörden beurteilen solche Fälle individuell und meist unabhängig voneinander, sollten sie denn überhaupt auf dem Schreibtisch eines Ermittlers landen. Sie können sich gut vorstellen, dass es hier unterschiedliche Zugänge gibt, je nachdem ob es sich um einen Ermittler oder Analytiker aus dem BVT oder um einen aus den 9 Landesämtern handelt. Ich gehe aber davon aus, dass wir à la longue in dieselbe Richtung gehen wie die deutschen Kollegen. Trotzdem, bei mehr als 300 Gefährdern bleibt die Beurteilung des jeweiligen Radikalisierungsgrades auch eine Personalfrage. Zentralisierung und sowohl qualitative als auch quantitative Aufstockung des Personals sind daher das Gebot der Stunde.

Ab wann gilt eine Betätigung überhaupt als islamistisch? Ab wann als demokratiefeindlich?

Objektive Kriterien für die Beurteilung von islamischem Extremismus existieren nicht. In diesem Bereich gibt es legistisch und strukturell noch einiges an Arbeit. Dasselbe gilt auch für den Begriff der Demokratiefeindlichkeit, die als „staatsfeindlich“ in der Regierungsvorlage zum Sicherheitspaket ihren Niederschlag findet. Dort wird der Begriff „staatsfeindliche Bewegung“ verankert, was als Paragraph 279a in das Strafrecht einfließen soll. In der Regierungsvorlage heißt es dazu: Mit bis zu zwei Jahren bestraft werden Gründer und Mitglieder einer solchen Bewegung, wenn „eine ernstzunehmende Handlung ausgeführt“ wurde, „in der sich die staatsfeindliche Ausrichtung eindeutig manifestiert“. Der Paragraph 279a greift dann, wenn „eine Gruppe vieler Menschen... gesetzeswidrig die Vollziehung von Gesetzen, Verordnungen oder sonstigen hoheitlichen Entscheidungen der Behörden“ verhindern. Bürgerrechtsorganisationen sehen sich damit existenziell bedroht. Wie sich ein solcher Paragraph in der Praxis auswirkt, wird man sehen, falls er denn jemals vom Parlament in dieser Form verabschiedet wird.

Müsste das BVT, wenn es wirklich effektiv Terrorismus bekämpfen will, nicht zwangsläufig die Funktion eines Nachrichtendienstes mitübernehmen und daher den engen rechtlichen Rahmen, in dem es operieren darf, verlassen?

Sie haben völlig Recht. Das BVT ist eine Sicherheitsbehörde und unterliegt daher genau diesen Beschränkungen. Ein Nachrichtendienst ist überwiegend präventiv ausgerichtet. Nachrichtendienstliche Informationen sind essentiell für die Terrorismusbekämpfung, ebenso wie die Strafverfolgungskomponente. Beides in einer Organisation macht das BVT schwerfällig und bindet durch den gerichtlichen Staatsschutz zu viel an Personal, das wesentlich wirksamer in der Prävention eingesetzt werden kann. In Deutschland etwa ist der gerichtliche Staatsschutz im Bundeskriminalamt organisiert. Das geht so lange gut, als beide Organisationseinheiten – Nachrichtendienst und Kriminalpolizei – intensiv zusammenarbeiten. Solche und andere Überlegungen gab es bereits mit Ende dieser Legislaturperiode. Status quo ist, dass die gesamte Dienstlandschaft in Österreich zwischen Innen- und Verteidigungsministerium fragmentiert ist. Eine Totalreform ist daher mehr als überfällig.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr eines islamistischen Massenanschlags in Österreich ein?

Wir sitzen in einem Boot mit unseren europäischen Nachbarn. Niemand geht davon aus, dass Österreich von künftigen Anschlägen verschont bleibt. Schon seit Jahren äußern sich Spitzen des Verfassungsschutzes dahingehend, dass es keine Frage des Ob, sondern des Wann wäre. Unisono jedoch gehen die Sicherheitsbehörden davon aus, dass die Gefährdung in Österreich heute so hoch ist wie in den Jahren davor.

Das BVT hat ein eigenes Referat für Prävention eingerichtet und plant ein „Aussteigerprogramm aus dem gewaltbereiten Extremismus". Inwiefern gibt es beim BVT Kompetenzen für diese Aufgabe?

Aller Anfang ist schwer. Die Frage stellt sich, warum dies erst jüngst in die Wege geleitet wurde. Die Notwendigkeit in diese Richtung zu gehen ist mehr als evident. Selbst wenn es im BVT für diese Aufgabe zu wenig an Kompetenz gibt, so ist es doch höchste Zeit eine solche Kompetenz aufzubauen.

Wie können Bürger, denen verdächtige Vorgänge auffallen, diese an das BVT weiterleiten?

Die Erreichbarkeit sowohl des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, als auch der Landesämter finden sich auf der Webpage des Innenministeriums: http://www.bmi.gv.at/cms/bmi/_news/bmi.aspx